Anders. Zu viel. Genau richtig.

Wie ich lernte, meine Tiefe nicht zu verstecken

„Anders“ – ein kurzes Wort mit langem Echo. Es hat mich verletzt, getriggert, gespiegelt. Heute wird es zu einem Kompass: weg vom Angepasst-Sein, hin zu einem Leben, das meinem inneren Rhythmus folgt.

Das Wort, das bleibt
„Anders.“ Es hallt in mir nach wie der Kuckuck im Wald. Ein Label, das man lieben und hassen kann. Was bedeutet es, wenn jemand, den ich liebe, mich so nennt? Bin ich zu viel – oder einfach ich?

Wo es begann
In meiner Kindheit fühlte sich vieles selbstverständlich an: Nähe, frühe Bindungen, ein schneller Schritt ins Erwachsenwerden. Nicht als Provokation, eher als natürliche Bewegung. Rückblickend merke ich: Nicht die Ereignisse waren „anders“, sondern meine Wahrnehmung. Ich nahm Zwischentöne wahr, Schwingungen, die andere übersahen. Das war nie eine bewusste Entscheidung – es geschah.

Die Stärke und der Preis
Ich kann zwischen den Zeilen lesen, Dinge fühlen, bevor Worte dafür gefunden werden. Das hilft mir – auch beruflich. Es hat aber eine Kehrseite: Wenn Gefühle wie Wellen anrollen, findet mein Kopf nicht immer sofort den Steg. Dann will er analysieren, ordnen, kontrollieren – und doch bleibt das Eigentliche ein Erleben: Fühlen.

„Zu viel“ – oder: falsch skaliert
„Zu emotional“, „zu tief“, „zu intensiv“. Vielleicht bin ich nicht zu viel – vielleicht wurden Maßstäbe an mich gelegt, die für Oberflächen gemacht sind. Tiefe ist nicht laut. Sie ist ein anderer Aggregatzustand von Nähe. Wer daran misst, ob etwas „praktisch“ oder „angenehm“ ist, wird Tiefe leicht missverstehen.

Einsam inmitten von Vielen
Ich liebe Alleinsein – und kenne doch Einsamkeit: nicht, weil niemand da wäre, sondern weil Resonanz fehlt. In einer Welt, die oft nach Tempo, Effizienz und Inszenierung fragt, suche ich nach Blicken, die wirklich sehen. Nach Gesprächen, die nicht flüchten, wenn es still wird.

Über „Normal“
Lange wollte ich beweisen, dass ich normal bin. Doch „normal“ ist ein bewegliches Ziel, oft eine Sammlung von Erwartungen: sei freundlich, funktional, verfügbar. Ich merke: Freiheit beginnt dort, wo ich die Skala wechsle. Nicht „normal vs. anders“, sondern „lebendig vs. angepasst“. Auf dieser Skala weiß ich, wohin ich gehöre.

Ein anderes Narrativ
„Die Wolfsfrau“ wurde für mich zu einer Erinnerung an Urinstinkte, an ein Wissen, das unter Schichten von „man macht das so“ begraben wurde. Ich frage mich nicht länger: Warum bin ich anders? Sondern: Was wird möglich, wenn ich so bleibe?

Mein Wendepunkt
Ich übe, „anders“ nicht zu bekämpfen, sondern zu bewohnen. Das heißt:

  • Gefühle nicht entwerten, sondern führen lassen – in kleinen Dosen, gut geerdet.

  • Sprache finden, wenn es möglich ist; Stille zulassen, wenn es notwendig ist.

  • Beziehungen wählen, die Tiefe nicht als Störung betrachten, sondern als Einladung.

Nähe, die bleibt
Liebe ohne Maskierung ist langsamer. Sie braucht Mut zur Wahrhaftigkeit und zur Begrenzung. „Nein“ ist Teil von Nähe. „Ich brauche Zeit“ auch. Tiefe Beziehungen wachsen an klaren Grenzen – und an weichen Herzen.

Anders – und gut
Heute höre ich „anders“ wie ein Ruf: Komm näher zu dir. Geh dort lang, wo dein Tritt sicher ist – auch wenn der Pfad schmal erscheint. Ich bin vielleicht nicht für jeden Ort gemacht. Aber ich bin exakt richtig für die Räume, in denen Tiefe erwünscht ist.

Zum Weitergehen – 5 leise Fragen an dich

  1. In welchen Momenten fühlst du dich „zu viel“ – und wofür könnte genau das ein Geschenk sein?
  2. Welche zwei Erwartungen anderer möchtest du liebevoll zurückgeben?
  3. Woran merkst du, dass echte Resonanz entsteht (Wort, Blick, Stille)?
  4. Welche Grenze schützt deine Tiefe – und wem möchtest du sie heute mitteilen?
  5. Was wäre ein kleiner täglicher Akt von Selbsttreue?


Vielleicht ist „anders“ kein Urteil, sondern ein Ursprungsort. Wenn wir dort bleiben, werden wir nicht weniger – wir werden wahr.