Morgens, wenn das Licht noch grau ist, stehe ich manchmal vor dem Spiegel und sehe kein Gesicht, sondern eine Bilanz. Ein unsichtbarer Vorstand tagt hinter der Stirn: Zahlen, Soll, Ist, Defizit. Da ist die Kollegin, die mehr schafft. Der Freund, der leichter lacht. Die Mutter, die geduldiger ist. Ich höre das alte Protokoll: Du hättest mehr sein müssen. Schöner. Stillere. Lautere. Klügere. Irgendwas. Es ist ein Satz ohne Ende und doch hat er einen Namen: Ich bin nicht genug.

Manch einer hätte gesagt: „Das Gehirn spart Energie, indem es Abkürzungen baut.“ Wenn du lange genug denselben Satz gedacht hast, fräst er eine Autobahn durch dein Denken. Jedes neue Ereignis - eine vergessene Mail, eine unbedachte Geste, ein Blick – rast wie von selbst hinein in diese Spur. Nicht, weil es wahr ist. Weil es vertraut ist. Man könnte ergänzen: „Dein System will dich schützen. Lieber klein machen, als wieder verletzt werden.“ Klingt paradox, ist aber Logik des Nervensystems: Wenn ich mich selbst vorab entwerte, tut es weniger weh, wenn es andere tun. Nur: Es tut trotzdem weh. Und das „nicht genug“ frisst von innen, höflich, ausdauernd, gründlich.
Ich erinnere mich an einen Abend, an dem ich an einem Küchentisch saß, Brotkrumen, kalt gewordener Tee, das Telefon stumm. Ich hatte „Nein“ gesagt zu etwas, das mich überforderte, und der Kopf begann sein altbekanntes Manöver: Hättest du dich nicht mehr anstrengen können? War das nicht wieder zu empfindlich? Alle anderen schaffen es doch. Und während ich mich verteidigen wollte – gegen mich – passierte etwas Kleines: Ich legte die Hand flach auf den Tisch. Holz unter der Haut. Zackige Kante. Ein winziger Splitter, den ich spürte, ohne ihn zu sehen. Jetzt, dachte ich. Nicht gestern, nicht alle, nicht immer. Jetzt. Die Stimme im Kopf wurde nicht wirklich still. Aber sie wurde leiser. Als hätte jemand die Tür einen Spalt zugedrückt.
„Nicht genug“ hat viele Kostüme. Manchmal trägt es Perfektion, glänzend, fleißig, pflichtbewusst – und kein Mensch sieht, wie sehr dahinter Scham atmet. Manchmal kommt es als Nettigkeit, die niemals „Nein“ sagt, damit niemand merkt, wie viele Tränen in den Taschen sind. Manchmal klingt es wie Vernunft: „Sei realistisch.“ In Wahrheit ist es Angst, verkleidet als Ordnung.
Die Wölfin in mir kennt diesen Ton. Sie weiß, wie die Kälte riecht, in der Tiere anfangen, sich kleiner zu machen. Und sie weiß auch, was dann hilft: nicht brüllen. Boden suchen. Sie stellt die Pfoten breiter, senkt den Kopf, prüft den Wind. Sie fragt nicht: Bin ich genug? Sie fragt: Bin ich hier? Wenn ich das tue – Hand auf Brust, Rücken an die Wand, Herz unter der Hand – merke ich, wie viel „genug“ darin liegt, überhaupt da zu sein. Atmen reicht. Nicht als Ausrede. Als Beginn.
Es ist verführerisch, gegen „nicht genug“ eine Liste zu schreiben: Zertifikate, Komplimente, Beweise. Ich habe das probiert, akribisch, jahrelang. Das Loch wird nicht satt von Pokalen. Es will etwas anderes: gesehen werden. Nicht übertönt. Man kann sagen: „Wenn du ein Muster umlernen willst, füttere das neue – sanft und oft.“ Also beginne ich dort, wo die Autobahn endet: an der Ausfahrt. Ein Blick. Ein Satz, der nicht gnadenlos ist. Ich bin müde, nicht minderwertig. Ich habe heute wenig geschafft – und ich bleibe ein Mensch. Ich darf Grenzen haben, ohne jemandem etwas schulden zu müssen. Das sind keine großen Reden. Das sind Pflöcke im Boden, damit der Wind mich nicht wieder von der Wiese trägt.
„Nicht genug“ ist selten eine Einzelstimme. Es ist ein Chor aus alten Sätzen: Sei nützlich. Sei leise. Sei nett. Sei dankbar. Ich habe angefangen, sie zu datieren. Manche tragen die Handschrift der Schule, manche die der Familie, manche die von Lieben, die selber verletzt waren. Mein Körper ist meine Archivarin. Wenn er schwer wird, legt er mir eine Akte hin. Ich lerne, sie aufzuklappen, zu lesen, zu weinen – und dann den Stempel „JETZT“ daraufzusetzen. Jetzt bin ich erwachsen. Jetzt darf ich entscheiden, welche Sätze bleiben.
„Wert entsteht in Beziehung – auch in der zu dir.“ Ich habe Menschen gewählt, die bleiben, wenn ich nicht glänze. Die auf mein „Ich kann gerade nicht“ nicht mit Beschämung antworten, sondern mit Platz. Es ist erstaunlich, wie viel „genug“ in einem einzigen Satz stecken kann: „Ich bin da.“ Dieser Satz hat mir schon Nächte gerettet. Und ja – manchmal musste ich ihn mir selbst sagen, laut, unfeierlich, im Bad, zwischen Zahnpasta und kaltem Spiegel. Es klang komisch. Es hielt trotzdem.
Vielleicht ist das Bitterste an „nicht genug“, dass es dich aus der Gegenwart stehlt. Du lebst in Prognosen: Wenn ich X schaffe, dann…; Wenn ich Y bin, dann… Die Wölfin lächelt darüber, milde. Sie kennt nur jetzt und den Weg. Sie legt den Kopf auf die Pfoten, wenn es schneit, und spart. Sie steht auf, wenn die Kälte nachlässt. Keine Heldentat, keine Hymne. Nur die Würde eines Tieres, das weiß, dass es ein Recht auf Raum hat.
Es gibt Tage, an denen ich wieder vor dem Spiegel stehe und der Vorstand sich räuspert. Dann atme ich, zähle die Fliesen, hebe die Augenbraue, als wüsste ich etwas, das die Zahlen nicht wissen. Und ich spreche den Satz, der jedes Protokoll sprengt, weil er nicht verhandelt: Ich bin genug für diesen Atemzug. Das ist nicht klein. Das ist präzise. Aus einem Atemzug werden zwei. Aus zwei ein Morgen. Aus einem Morgen ein Leben, das sich wieder traut, nicht perfekt zu sein.
Wenn du das liest und der Stich kommt – dieser ganz private, scharfe –, dann leg eine Hand auf deine Brust. Spüre den Takt deines Herzens, deines Atems. Das ist das Mindeste, sagst du vielleicht. Ich sage: Das ist das Heiligste. Du bist da. Du musst nichts leisten, um zu atmen. Du musst nichts beweisen, um zu sein. Genug ist kein Ziel, das du irgendwann erreichst. Genug ist der Boden, auf dem du schon stehst, wenn du aufhörst, dich zu verlassen.
Und falls die Stimmen heute zu laut sind: Ich sitze einen Moment mit dir am Tisch. Brotkrumen. Kalter Tee. Stille. Wir sagen nichts, bis der Satz auftaucht, der uns beide hält: Ich bin hier. Der Rest darf warten. Die Welt läuft nicht weg. Und wenn sie dich morgen wieder messen will, zeig ihr das Knurren der Wölfin. Kein Kampf. Nur Gegenwart. Das reicht.