Wenn die Welt grau wird und die Sekunden schwer

Morgens ist der Himmel oft am dichtesten. Nicht draußen - drinnen. Ein Grauschleier liegt über den Dingen, als hätte jemand die Sättigung heruntergedreht. Der Körper fühlt sich an wie ein nasser Mantel, den man nicht ausziehen kann. Die Zahnbürste ist ein Berg. Die Dusche ein Ozean. Und irgendwo zwischen Bettkante und Tür wartet eine leise, zähe Stimme: Lass es. Heute nicht. Morgen vielleicht.

Depression ist kein Mangel an Charakter. Sie ist ein Zustand deines Nervensystems. Manche hätten gesagt: „Das Gehirn schaltet in Energiesparmodus und färbt die Wahrnehmung dunkler - nicht, weil du versagt hast, sondern weil es glaubt, dich zu schützen.“ Oder: „Du bist nicht defekt. Dein System ist überanstrengt.“ Die Welt wird nicht kleiner. Der Zugang zu ihr wird schmaler. Gedanken schleppen sich durch zähen Sirup. Entscheidungen kleben fest wie Fliegen an Honig. Und mitten in diesem Zuviel an Schwere entsteht die grausamste Lüge: So bleibe ich für immer.

Ich kenne dieses „immer“. Es ist kein Wort, es ist ein Gewicht. Es legt sich auf Sprache und macht Sätze kurz: Kann nicht. Will nicht. Schaff ich nicht. Selbst Freundlichkeit wird brüchig; man möchte sich entschuldigen, dass man existiert. Tut mir leid, dass ich müde bin. Tut mir leid, dass ich nichts fühle. Tut mir leid, dass ich zu viel bin und gleichzeitig zu wenig. Und während du dich noch für dein Tempo schämst, erzählt die Biologie nüchtern ihre Geschichte: Antrieb sinkt, Schlaf kippt, Appetit verzieht sich, der Blick wird dunkler. Kein Drama, eher ein kaltes Protokoll.

Früher glaubte ich, „Raus da!“ wäre eine Treppe. Heute weiß ich: Es ist eher ein schmaler Pfad, auf dem man friert. Die Wölfin in mir hat mir das beigebracht. Nicht die romantische, wilde Heldin. Die winterliche. Die, die im Bau überlebt, weil sie atmet, spart, lauscht. Sie rennt nicht, wenn der Schnee tief ist. Sie setzt Pfote vor Pfote, ohne zu verhandeln, ob es sich lohnt. In meinen schlechtesten Wochen kommt sie nicht als Tatkraft, sondern als Haltung: Ich bleibe. Ich verharre. Ich warte, bis ein Zentimeter Boden wieder tragfähig wird.

Es gibt Tage, da fühlt sich „Duschen“ an wie eine Expedition. Dann denke ich in Mikroschritten, nicht in Idealen. Einen Rat im Ohr: „Mach’s dem Gehirn leicht - kleine, klare Reize, die wieder Jetzt sagen.“ Also erst Wasser an. Dann Hand unter den Strahl. Dann eine Schulter. Nur das. Kein Wellness, kein „sollte“. Und plötzlich hat mein System wieder ein Datum: heute. Man würde auch sagen: „Mini-Handlungen sind keine Kleinigkeit. Sie sind Beweise, die dein Hirn sammelt: Ich kann noch Ursache und Wirkung.“

Depression hat einen Nebel, in dem Erinnerungen schief werden. Man vergisst, dass es jemals anders war. Man vergisst, dass Lachen nicht weh tat. Der Kopf zeigt nur Standbilder aus Wintern. Darum schreibe ich mir Sommer auf Zettel: Es gab Erdbeeren. Es gab eine Freundin, die blieb. Es gab Musik, die das Gefühl von Wärme brachte. Ich klebe diese Zettel an Spiegel, an Kühlschränke, an den Rand vom Laptop. Nicht als Motivationsplakat. Als Gegenbeweis. Gegen das „immer“.

Scham ist die gemeinste Begleiterin. Sie sagt: Reiß dich zusammen. Sie sagt: Anderen geht’s schlechter. Sie sagt: Du bist eine Last. Ich habe diese Stimme oft geglaubt. Bis ich sie als Symptom erkannte. Ein Rest Energie, der sich nach innen frisst. Seitdem übe ich eine andere Grammatik: Nicht Warum bin ich so? - sondern Wie kann ich mir heute begegnen, ohne zu verschwinden? Manchmal heißt das: eine Suppe statt eines Tageswerks. Manchmal: einem Menschen schreiben „Ich bin da, aber leise“. Manchmal: Vorhänge aufziehen und mich fünf Minuten ans Fenster stellen wie an einen Lichtkamin.

Die Wölfin kennt die Kunst, bei Kälte nicht zu verhandeln. Sie verlegt das Revier näher an Wasser und Nahrung. Ich auch. Wasser trinken. Etwas Schmackhaftes auf die Zunge. Eine kerzengerade, winzige Aufgabe: die Tasse in die Spülmaschine stellen. Den Müll rausbringen. Zwei Sätze einer Mail. Kein Heldentum. Nur Leben in Millimetern. Und dann, wenn es geht, eine sanfte, fast mütterliche Frage an mich selbst: Ist das, was ich jetzt denke, eine Wetterlage oder ein Weltbild? Meistens ist es Wetter. Und Wetter zieht weiter, auch wenn es langsam ist.

Es gibt auch die Tage, an denen der Körper Geschichte trägt - Schwere, die nicht nur von heute ist. Alte Sätze: Du störst. Sei leise. Sei nützlich. Ich nenne meinen Körper dann meine Archivarin. Er legt mir Akten auf den Tisch - unsortiert, schmerzhaft, aber mit der stillen Bitte: Schau mich an. Therapie hat mir beigebracht, den Stempel „Jetzt“ zu setzen und Arbeit in Etappen zu tun. Nicht jede Akte heute. Eine faltet man auf, eine legt man zurück. Und zwischendurch: raus aus dem Kopf, rein in den Körper. Ein Löffel Joghurt. Der Rücken an der Wand. Hand auf Herz. Ich bin hier.

Wenn du das liest und gerade nichts fühlst außer Müdigkeit: Ich glaube dir. Wenn du es liest und weinst, weil jemand deine Müdigkeit endlich Sprache nennt: Ich sehe dich. Du bist nicht zu langsam für die Welt. Die Welt ist zu laut für deine Erschöpfung. Du darfst leiser werden, ohne zu verschwinden. Das ist kein Rückzug. Das ist Heilungsgeschwindigkeit.

Man sagt, Hoffnung sei ein großes Wort. Für mich ist sie klein. Sie sitzt in Dingen, die lächerlich wirken: saubere Socken; ein Löffel Honig; das zweite Fenster des Tages öffnen; ein Lied, das nicht viel will; ein Termin, den ich nicht absage. Hoffnung ist der Moment, in dem der Gedanke „für immer“ einen Riss bekommt. Da fällt Licht hinein. Nicht viel. Genug.

Und wenn gar nichts geht, gilt die winterliche Weisheit: Überwintern ist auch leben. Die Wölfin legt den Kopf auf die Pfoten und spart. Ich lege mich daneben. Wir zählen keine Siege. Wir zählen Atemzüge. Einer. Noch einer. Und noch einer, der ein winziges Stück leichter ist.

Falls du heute nur einen einzigen Satz mitnimmst, nimm diesen: Du bist nicht weniger, weil du gerade schwer bist. Du bist wahr. Und wahr hält länger als jede Dunkelheit. Wenn es finster bleibt, hol dir Hände dazu -professionelle, freundschaftliche, nahbare. Nicht, um dich zu reparieren. Um dich zu halten, bis du dich wieder tragen kannst.